Die Gemeinschaft, die sich um Ziel gesetzt hat, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuent-
wickeln, hat seit Anfang diesen Jahrhunderts Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitenden Beziehungen, erlassen, die ständig
erweitert und vervollständig werden.
Was die internationale Zuständigkeit der Gerichte in Scheidungs-, Sorgerechts- und Unterhaltsangelegenheiten betrifft, sehen folgende Verordnungen Kollisionsnormen vor :
– die EG-Verordnung Nr. 2201/2003 vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über die Auflösung des Ehebandes und das Sorgerecht, die am 1. März 2005 in Kraft getreten ist. Sie hat keinen begrenzten ratione loci Anwendungsbereich, sondern ist anwendbar, sobald sich eine Zuständigkeitsregel auf dem Gebiet eines Mitgliedstaates und ohne Rücksicht auf die Nationalität der Parteien realisiert.
– die EG-Verordnung Nr. 4/2009 vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Unterhaltssachen, die am 18. Juni 2011 in Kraft getreten ist. Auch diese Verordnung ist territorial nicht begrenzt. Eine der wichtigsten Neuerungen dieser Verordnung, ist die Abschaffung der Exequatur, die Möglichkeit Gerichtsstandsklauseln und das anzuwendende Recht zu vereinbaren
wie auch die Zusammenarbeit der Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten bei der Eintreibung und Vollstreckung der Unterhaltstitel.
Das auf das Sorgerecht und den Unterhalt anzuwendende Recht, sind geregelt in
-dem Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die elterliche Verantwortung,
in Kraft getreten in Frankreich am 1. Februar 2011; es ersetzt das Haager Übereinkommen von 1961.
– dem Haager Protokoll vom 23. November 2007, anwendbar in Verbindung mit den Bestimmungen der EG-Verordnung Nr. 4/2009 und am gleichen Tag wie die Verordnung in Kraft getreten. Es ersetzt das Haager Übereinkommen vom 2. Oktober 1973.
Das Übereinkommen und das Protokoll haben einen universalen Anwendungsbereich, was bedeutet, dass sie anwendbar sind, selbst wenn das darin bezeichnete Recht dasjenige eines Nichtvertragstaates ist.
Das auf Scheidungen anzuwendende Recht ist vorgesehen in der Verordnung (EG) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20. Dezember 2010. Diese Verordnung wird am 21. Juni 2012 in 14 Mitgliedstaaten anwendbar sein : Frankreich, Deutschland, Österreich, Belgien, Luxemburg, Spanien, Italien, Portugal, Ungarn, Rumänien, Slowenien, Bulgarien, Lettland und Malta.
Nachstehende Fallbeispiele sollen veranschaulichen, wie sich die internationalen Texte artikulieren :
Sandro lebt mit seiner Mutter in Paris, sein Vater wohnt in Deutschland. Der Kindesvater hat vor dem Pariser Familienrichter ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet, in dem er auch ein Unterhaltsangebot für den gemeinsamen Sohn gemacht hat. Während des Verfahrens zog die Mutter mit den Kind in den Libanon um.
Welches Gericht ist zuständig ?
Nach Artikel 8 Brüssel-II-A-Verordnung sind die Gerichte des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes für die elterliche Verantwortung zuständig.
Nach Artikel 3 der Unterhaltsverordnung, ist das Gericht des Aufenthaltsortes des Gläubigers
u.a. zuständig.
Die Zuständigkeit bestimmt sich im Zeitpunkt der Antragsstellung.
Das französische Gericht ist deshalb zuständig, selbst wenn die Kindesmutter noch vor
Abschluss des Verfahrens Frankreich verlassen hat, um sich im Libanon anzusiedeln.
Welches Recht in anwendbar ?
– auf die elterliche Sorge
Nach Artikel 16 des Haager Übereinkommens über die elterliche Verantwortung vom
19.10.1996 betreffend die Natur der elterlichen Sorge gilt das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes. Beim Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, bleibt es bei dem Recht des vorherigen Aufenthalts.
Auf die elterliche Sorge ist deshalb französisches Recht anwendbar.
– auf den Unterhalt
Nach Artikel 3.2. des Haager Protokolls ist beim Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts
des Gläubigers das Recht des neuen Aufenthalts ab dem Zeitpunkt, an dem der Wechsel
stattgefunden hat, anwendbar.
Die Kindesmutter ist noch vor dem Verhandlungstermin in den Libanon umgezogen. Das Recht des neuen Aufenthalts findet deshalb sofort Anwendung.
Der französische Richter muss deshalb das libanesische Recht auf den Unterhaltsanspruch
anwenden. Obwohl der Libanon weder ein Mitgliedstaat der EU, noch ein Vertragstaat des Protokolls ist, findet in der Tat das libanesische Recht wegen der in dem Haager Protokoll in Artikel 2 vorgesehenen universalen Anwendung, Anwendung.
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Klaus, deutscher Staatsbürger, und Berthold, holländischer Staatsbürger, haben in Spanien die Ehe mit einander geschlossen. Sie beabsichtigen, sich in Paris niederzulassen. Klaus kommt als erster in die Stadt an der Seine, um die zukünftige gemeinsame Wohnung einzurichten. Berthold hat zwischenzeitlich eine neue Liebschaft und bleibt in Spanien. Klaus, der finanziell auf Berthold angewiesen ist, möchte Unterhaltsansprüche gegenüber seinem Ehepartner geltend machen.
Welches Gericht ist zuständig ?
Nach Artikel 3 a) der Verordnung Nr. 4/2009 ist der spanische Richter als Richter des Ortes, an dem die Gegenpartei ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, zuständig.
Jedoch ist auch der französische Richter lt. Artikel 3 b) der Verordnung zuständig, weil Klaus als Gläubiger in Frankreich seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Welches Recht ist anwendbar für den Fall, dass das Verfahren vor dem
Spanischen Richter anhängig ist ?
Das Haager Protokoll vom 23. November 2007 sieht eine spezielle Regelung über Unterhaltsansprüche von Eheleuten vor. Es handelt sich hier um Artikel 5, der die in Artikel 3 vorgesehene Bestimmung ausschließt, d.h. die Anwendung des Rechts des gewöhnlichen Aufenthalts des Gläubigers, wenn sich eine der Parteien ihr widersetzt und das Recht eines anderen Staates, insbesondere des Staates des letzten gemeinsamen Aufenthalts eine engere Verbindung mit der Ehe hat.
In vorliegendem Fall käme nach Artikel 3 das französische Recht als Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Gläubigers zur Anwendung. Klaus kann sich jedoch der Anwendung französischen Rechts widersetzen und vortragen, dass das spanische Recht wegen „der engeren Verbindung zur Ehe“ anzuwenden ist, da es das Recht „des letzten gemeinsamen Aufenthalts ist“.
Würde Berthold nach dem er zur Zahlung von Unterhalt von dem spanischen Richter verurteilt wurde, das Urteil nicht spontan vollstrecken und nach Holland flüchten, könnte Klaus das Urteil ohne vorherige Exequatur in Holland verstrecken lassen.
Welches Recht wäre anwendbar, wenn Klaus vor dem französischen Richter klagen würde ?
Auch hier könnte sich Klaus auf Artikel 5 des Protokolls berufen. Nur wäre dies problematisch, weil das Protokoll nicht den Begriff „Eheleute“ definiert, jeder Staat ist frei, den Begriff zu definieren. Das französische Recht kennt bekanntlich nicht die Ehe zwischen Homosexuellen. Auf jeden Fall könnte französisches Recht angewendet werden, da es das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Gläubigers ist.
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Birgit ist mit Pedro verheiratet, sie haben einen gemeinsamen Sohn, der bei der Mutter in Paris lebt; das Ehepaar hatte nie eine gemeinsame eheliche Wohnung. Birgit blieb nach der Heirat weiterhin in Paris, Pedro lebte weiter in der Toskana.
Birgit möchte sich scheiden lassen.
Welches Gericht ist zuständig ?
– auf die Scheidung
Da Birgit als deutsche Staatsbürgerin schon länger als sechs Monate in Frankreich ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, sind nach Brüssel-II-A-Verordnung die französischen Gerichte für die Scheidung zuständig.
Jedoch ist das italienische Gericht ebenfalls zuständig, da es das Gericht des Aufenthalts der Gegenpartei ist, wo auch Pedro sofort die Scheidung einreichen könnte, da er immer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Heimatstaat hatte.
– auf das Sorgerecht
Nach Artikel 12 Brüssel-II-A-Verordnung sind die italienischen Gerichte nur dann für das Sorgerecht zuständig, wenn die Kindesmutter und zum höchsten Kindeswohl in die Zuständigkeit einwilligt.
Welches Recht ist anwendbar ?
– auf die Scheidung
Richtlinien über das auf die Scheidung anzuwendende Recht bestehen zwar (VO (EG) n° 1259/2010), sind jedoch bis heute noch nicht in Kraft getreten. Es müssen deshalb die nationalen Kollisionsnormen befragt werden.
Die französische Kollisionsnorm finden wir in Artikel 309 ff. code civil.
Artikel 309, 3. Abs. sieht vor, dass französisches Recht nur auf die Scheidung Anwendung findet, wenn die französischen Gericht zuständig sind und sich kein ausländisches Recht für zuständig erklärt; sollte sich nach der italienischen Kollisionsnorm das italienische Recht nicht für zuständig erklären, wäre französisches Recht anwendbar.
– auf das Sorgerecht
Laut Haager Übereinkommen über die elterliche Verantwortung (Artikel 16 + 17) unterliegt die elterliche Sorge dem Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes.
Sollte die Kindesmutter in die Zuständigkeit der italienischen Gerichte einwilligen, käme italienisches Recht auf die elterliche Sorge zur Anwendung; ansonsten unterläge die Sorge französischem Recht.
– auf den Kindesunterhalt
Laut Artikel 3.1. des Haager Protokolls richtet sich das anzuwendende Recht nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes.
Wie oben schon erwähnt, willigte die Kindesmutter in die Zuständigkeit der italienischen Gerichte was die Zuständigkeit betreffend die elterliche Sorge betrifft, ein, so unterläge der Kindesunterhalt italienischem Recht; ansonsten dem französischen.
– auf den ehelichen und den nachehelichen Unterhalt
In Anwendung des Haager Übereinkommens vom 2. Oktober 1973 über das auf Unterhaltspflichten angewendete Recht, war hier der Anknüpfungspunkt das Recht, dem die Scheidung unterlag
Dieses Übereinkommen wurde ab dem 18. Juni 2011 ersetzt durch das Haager Protokoll.
Das Haager Protokoll sieht in Artikel 3.1. vor, dass der Anknüpfungspunkt der gewöhnliche Aufenthalt des Gläubigers ist, es sei denn, das Protokoll sieht etwas Anderes vor.
In vorliegendem Fall unterläge der eheliche und der nacheheliche Unterhalt dem Recht des Aufenthalts des Gläubigers.
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Ein Ehepaar lebt mit seinen Kindern in Deutschland. Der Ehemann, der Ingenieur ist, weiß dass seine Firma beabsichtigt, ihn ins Ausland zu schicken. Das Ehepaar hat gehört, dass es nach den neuesten Bestimmungen möglich ist, für den Fall einer Scheidung das zuständige Gericht und das anzuwendende Recht zu vereinbaren. Sie bitten um Rechtsberatung, ob die Zuständigkeit des Gerichts und das Recht vertraglich vereinbart werden können. Sie wünschen, dass bei einer eventuellen Trennung die deutschen Gerichte zuständig sind und dass deutsches Recht angewendet wird.
– Kann im heutigen Zeitpunkt ein Vertrag über die gerichtliche Zuständigkeit und das anzuwendende Recht erstellt werden ?
Diese Möglichkeit besteht nur, was eventuelle zukünftige Streitigkeiten über Unterhaltssachen betreffen, und dann nur, was den ehelichen und nachehelichen Unterhalt angeht.
a) laut Artikel 4 der Verordnung Nr. 4/2009, können die Eheleute das zuständige Gericht
wählen; die Wahl ist jedoch begrenzt. Dies kann beispielsweise ein deutsches Gericht
sein, weil eine der Parteien deutscher Staatsbürger ist oder weil der letzte gemeinsamen Wohnsitz während eines Jahres in Deutschland war.
Artikel 4.3. schließt jedoch ausdrücklich die Wahl für Unterhaltsstreitigkeiten
betreffend Kinder unter 18 Jahren aus.
b) Artikel 8 des Haager Protokolls sieht einen ganzen Kataloge von Rechten vor,
die das Ehepaar wählen kann, sofern das gewählte Recht nicht die Unterhalts-
ansprüche ausschließt.
Für minderjährige Kinder ist die Rechtswahl ausgeschlossen (Artikel 8.3).
Dem Wunsch Ihrer Mandanten kann entsprochen werden, da sie im Zeitpunkt der Vereinbarung zusammen in Deutschland wohnen und das deutsche Recht die Unterhaltsansprüche zwischen Eheleuten nicht ausschließt.
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Ein deutsches Ehepaar lebt mit seinen drei minderjährigen Kindern in Frankreich. Die Ehefrau begehrt die Scheidung; ihr Rechtsbeistand hat ihr geraten, die Scheidung in Deutschland einzureichen, da er glaubt, dass das deutsche Unterhaltsrecht günstiger für seine Mandantin sei.
Der Rechtsbeistand des Ehemanns hat die Annahme der Klage verweigert und einen französischen Kollegen gebeten, in Frankreich ebenfalls einen Scheidungsantrag zu stellen.
Welches Gericht ist zuständig
– auf die Scheidung
Die deutschen Gerichte sind zuständig wegen der gemeinsamen Staatsangehörigkeit, die französischen Gerichte sind ebenfalls zuständig wegen des gemeinsamen Aufenthalts (Brüssel-II-A-Verordnung).
Wir sind jedoch hier in einer doppelten Rechthängigkeit.
Das deutsche Gericht ist zuständig, weil sich hingegen der Annahme des gegnerischen Rechtsbeistandes, die Rechtshängigkeit nicht nach dem nationalen Recht (hier dem deutschem, das zwischen Anhängig- und Rechtshängigkeit unterscheidet), sondern nach dem Gemeinschaftsrecht richtet.
Nach Artikel 16 a) Brüssel-II-A-Verordnung ist der Antrag an dem Tag rechtshängig, an dem er bei Gericht registriert wurde. Nur dieser Absatz kommt in der deutsch/französischen Praxis in Frage, da sowohl in Frankreich als auch in Deutschland Scheidungsanträge bei Gericht eingereicht und von der Geschäftstelle zugestellt werden oder, was Frankreich betrifft, nach Genehmigung des Richters von einem Gerichtsvollzieher zugestellt werden können.
– auf das Sorgerecht
Damit der deutsche Richter ebenfalls über die Sorge entscheiden kann, müsste der Kindesvater und zum höchsten Kindeswohl in die Zuständigkeit einwilligen (Artikel 12 der Verordnung).
– auf den Kindesunterhalt
Artikel 3 a) und 3 b) der Verordnung EG Nr. 4/2009 verweisen auf die Zuständigkeit
des Gerichts des gewöhnlichen Aufenthaltsortes des Gläubigers oder des der Gegenpartei.
Jedoch ist laut Artikel 3 c) der Verordnung EG Nr. 4/2009 über Unterhaltssachen, das Gericht, das nach seinem Recht für ein Verfahren in Bezug auf die Scheidung zuständig ist, für Unterhaltssachen zuständig, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist, es sei denn, diese Zuständigkeit beruht einzig auf der Staatsangehörigkeit einer der Parteien.
Sollte der Kindesunterhalt bereits in dem Scheidungsverfahren geltend gemacht werden und da die Zuständigkeit nicht einzig auf der Staatsengehörigkeit einer der Parteien beruht, wäre das deutsche Gericht ebenfalls zuständig, um über ihn zu entscheiden.
– auf den ehelichen und nachehelichen Unterhalt
Das deutsche Gericht wäre aus den gleichen Gründen für den ehelichen und nachehelichen Unterhalt zuständig. Der deutsche Richter könnte hier ebenfalls den Versorgungsausgleich machen, was für den französischen Richter problematisch ist, da er dieses Rechtsinstitut nicht kennt.
Welches Recht ist anwendbar ?
– auf die Scheidung
Auf die Scheidung wird deutsches Recht angewendet (§§ 14 und 17 EGBGB).
– auf die elterliche Sorge
Auf das Sorgerecht ist französisches Recht wegen des gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder anwendbar (Artikel 17 des Haager Übereinkommens über die elterliche Sorge).
– auf den Kindesunterhalt und den ehelichen und nachehelichen Unterhalt
Auch hier ist französisches Recht anwendbar, und zwar ebenfalls wegen des gewöhnlichen Aufenthalts der Gläubiger (Artikel 3.1 Haager Protokoll).
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